[exultate!]
Messgesänge und Orgelmusik der Moderne
Im Frühjahr 1997 trat der Kronenchor mit seinem bis dahin durchgehend modernsten Programm an die Berliner Öffentlichkeit. Mit [exultate!] gab er zwei Konzerte in eigener Regie (Hohenzollernkirche in Berlin-Wilmersdorf und Taborkirche in Berlin-Kreuzberg) und erhielt zudem vom Berliner Sängerbund die Gelegenheit, die Berliner Chortage 1997 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zu eröffnen.
Für den Part des Solotenors konnten wir Michael Bielefeld engagieren, die Orgel spielte Arno Schneider.
Das Programm
Ralph Vaughan Williams
A Choral Flourish
Knut Nystedt
Kyrie
Lars Edlund
Gloria
Maurice Duruflé
Suite für Orgel op. 5
Jehan Alain
Ave Maria (Tenor-Solo)
Jean Langlais
O Salutaris Hostia
Jean Langlais
Ave Mundi Gloria
Sven-David Sandström
O Guds Lamm
Trond Kverno
Ave Maris Stella
Lars Edlund
Gloria
Hier der Text des damaligen Programmhefts, der von Hilde Daniel für uns geschrieben wurde:
[exultate!] – Geistliche Chor- und Orgelmusik der Moderne
Versucht man, eine Grundtendenz der geistlichen Chor- und Orgelmusik des 20. Jahrhunderts zu bestimmen, so ist es der immer wieder geäußerte Wunsch nach Erneuerung. In einer musikgeschichtlichen Situation, in der nicht nur die akkordharmonische Tonalität sondern die klassisch-romantische Musiksprache insgesamt fragwürdig geworden war, suchten Komponisten geistlicher Musik auch aus religiös-ästhetischen Gründen nach neuen Formen. An die Stelle des subjektiv-individuellen Ausdrucks der Romantik sollten wieder objektiv gültige Gestalten treten, in denen Verkündigung und Anbetung die zentrale Rolle spielten. Vorbilder fand man in der kunstvollen Vokalpolyphonie der Renaissance und in der feierlich schlichten Musik des Mittelalters. Auf je eigene Weise gelang es Komponisten in verschiedenen Ländern, sich alte Formen, Setzweisen und Melodien produktiv anzuverwandeln, sie mit zeitgenössischen Intervallstrukturen und Klangtechniken zu kombinieren und daraus eine ganz eigene, neuartige Musiksprache zu entwickeln.
Für dieses Konzert wurden moderne Vertonungen geistlicher Texte von sieben europäischen Komponisten zusammengestellt. Den Rahmen des Programms bilden acappella-Gesänge aus England und Skandinavien. Fast ohne Vergleich ist die fruchtbare Entwicklung neuer Chormusik nach 1945 in Schweden. Eine wichtige Rolle spielten dabei das hohe Niveau und das große Engagement der schwedischen Chöre. Die Fähigkeit und Bereitschaft dieser Chöre, Neues aufzunehmen, wurde zur inspirierenden Kraft für viele Komponisten. Einzigartig war die Zusammenarbeit zwischen Komponisten, Chordirigenten und Chören, Hochschullehrern und Rundfunkdirektoren, um die neue Chormusik zu verbreiten. Sie arbeiteten zusammen, weil sie etwas Neues schaffen wollten und weil sie stolz darauf waren, einer häufig aus dem Ausland importierten Musikkultur nun etwas Eigenes entgegensetzen zu können. Ein aufgeschlossenes Publikum ermutigte die Künstler auf diesem Weg.
In einer experimentellen Phase während der 60er Jahre entwickelten schwedische Komponisten zahlreiche neue Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten, die sie mit klar strukturierten und in ihrem dramatischen Ablauf verständlichen Formen verbanden (Lars Edlund, ‘Gloria’, 1969).
Seit den 70er Jahren eroberte ein neues Ideal von Klangschönheit die Herzen von Chören und Publikum (Sven David Sandström, ‘O Guds Lamm’, 1992). die neue norwegische Chormusik ist in vielen Punkten der schwedischen vergleichbar.
In der Mitte des Konzerts erklingt französische Chor- und Orgelmusik. Auf die ‘Suite für Orgel op. 5’ von Maurice Duruflé folgen das ‘Ave Maria’ für Tenor und Orgel von Jehan Alain und zwei Motetten für Frauenchor und Orgel von Jean Langlais. Neben dem Chor als musikalischem Ensemble der Gemeinde ist die Orgel seit alters her mit dem Kirchenraum verbunden. Nachdem im 19. Jahrhundert die klanglich-instrumentalen Voraussetzungen geschaffen wurden, bildete sich in Frankreich eine besondere Tradition klangorientierter Orgelkompositionen heraus. Meisterhaft wurden clavieristische und symphonische Stilelemente in den Orgelsatz integriert. Tradiert und institutionalisiert wurde die französische Orgelmusik vor allem an den großen Kirchen und am Konservatorium von Paris. Hier studierten auch Maurice Duruflé, Jehan Alain und Jean Langlais.
Allen Stücken gemeinsam ist eine farbige, häufig sehr subtile Klangsprache. Vordergründige Effekte werden vermieden. Alte und neue klang- und satztechnische Mittel werden nebeneinandergestellt oder zu neuen Ausdrucksformen verbunden, um den Inhalt der zugrundeliegenden Texte zu verdeutlilchen. Die überwiegend syllabische und oft auch homophone Setzweise bewirken eine hohe Textverständlichkeit. Die meisten Stücke kommen aus der Stille und gehen in sie zurück. Manche verbleiben gar in der Intensität einer ganz leisen, ausdrucksstarken Klanglichkeit. Eröffnet aber wird das Konzert von dem freudigen Jubel des ‘Choral flourish’ von Ralph Vaughan Williams.
[zum progamm]
‘Cantate ei canticum novum’ – ‘Singt ihm ein neues Lied’. Diese Worte aus den ersten vier Versen des 33. Psalms, die Ralph Vaughan Williams (1872-1958) in ‘A Choral Flourish’ (1956) vertont hat, könnten als Motto über dem gesamten Schaffen des Komponisten stehen. Die Suche nach einem ‘neuen Lied’, d.h. nach einer neuen Musiksprache, bestimmt sein Werk. Die kontrastierenden musikalischen Satzweisen des Choral Flourish dienen gleichermaßen der Formstrukturierung als auch der musikalischen Verdeutlichung des Textinhalts. Eine archaisch anmutende Klangwelt durchzieht das Stück über weite Strecken hin. Die erste Dur-Terz erstrahlt bezeichnenderweise bei dem Wort ‘Domino’. Wenn der Text schildert, auf welch vielfältige Art Gott gelobt werden soll, mit Harfen, mit einem neuen Lied, Psalmengesang und volltönender Stimme, faltet sich auch der musikalische Satz auf: In imitierenden Stimmeinsätzen und auflockernden Terzklängen ist der Lobpreis musikalisch bereits in vollem Gange. Plötzlich und unvorbereitet münden die Stimmen in einen F-Dur-Akkord, dem immer neue überraschende Akkorde folgen. Ein feierlicher Choral verkündet den Grund für den Jubel: ‘Quia rectum est verbum Domini, et omnia opera eius in fide’ (Denn wahrhaftig ist das Wort des Herrn, und all seine Werke sind verläßlich).
Das ‘Kyrie’ (1974) des norwegischen Komponisten Knut Nystedt (*1915) ist einer Erntedankmesse entnommen. Auch hier vermischen sich archaische mit modernen Klangtechniken. Antiphonisch wechseln Treble-Choir (Frauenchor) und Gesamtchor. Die rhythmischen Formeln, die den Ruf des Kyrie und Christe eleison prägen, verbreiten mit ihrem repetierenden Verharren auf einer Tonhöhe und ihrer mehrmaligen Wiederholung meditativ-beschwörende Wirkung. Am Ende entfaltet sich ein wohlig warmer Klangteppich, in dem etwas von dem ersehnten Erbarmen bereits spürbar wird.
Ungeheuer expressiv ist das 1969 von Lars Edlund (*1922) für den schwedischen Rundfunkchor komponierte ‘Gloria’. Das gesamte Stück bewegt sich zwischen den Extremen von gesprochenem Text und reinem Klang. Dabei nutzt Edlund neue zeitgenössische Möglichkeiten des kompositorischen Umgangs mit Texten. Die gesungenen und gesprochenen Formeln greifen wie bei einem Zahnrad ineinander, werden immer lauter und schneller, drohen sich beinahe zu überschlagen und erreichen schließlich ihr Ziel in den expressiven Klängen des ‘Glorificamus te’ (wir rühmen dich).
Bei der Anrufung des ‘Agnus Dei’ zieht sich die Musik gleichsam in eine innere Versenkung zurück bis hin zum wortlosen Klingen reiner Vokale. Doch dann folgt ein gewaltiger Aufschrei: ‘Suscipe deprecationem nostram’ (erhöre unser Gebet). Symbolkräftig sind Stimmverschränkungen und Einklang, wenn Jesus als derjenige angesprochen wird, der zur rechten des Vaters sitzt. Traditionell sind Homophonie und lange Notenwerte bei der namentlichen Anrufung ‘Jesu christe’. Hier breiten zusätzlich die plötzlich reinen Dur- und Molldreiklänge nach all den ungewohnten, expressiven Klangtechniken eine Atmosphäre tiefen Friedens aus.
Die 1933 von Maurice Duruflé (1902-1986) komponierte, Paul Dukas gewidmete ‘Suite für Orgel op. 5’ fasziniert nicht nur durch ihre erstaunliche Virtuosität sondern auch durch bezaubernd schöne Klangwirkungen. Im Prelude (es-moll) werden zwei kontrastierende Themen mit ständig wachsender Dramatik klanglich gesteigert und immer weiter verkürzt, bis sie nur noch fragmentiert in wilden Figurationen erscheinen. Der Kampf findet zu keiner Lösung, er wird schwächer und weicht einer sehr zarten, schwebenden Melodie. Eingebettet in milde Klänge läßt sie die vorangegangene Anspannung vergessen. Als zweiter Satz folgt eine Sicilienne in g-moll mit einem lieblichen, modalen Thema. Die abschließende Toccata in b-moll, zeichnet sich durch außerordentliche Virtuosität und aufgeregte Rhythmik aus. Das Stück endet in einem rauschenden Figurenwirbel.
1937 widmete Jehan (Ariste) Alain (1911-1940) seiner Schwester Marie Odile (1914-1937) eine textlose ‘vocalise dorienne’. Marie Odile stürzte – nur 23jährig – bei einer Bergtour in den Alpen in die Tiefe. Drei Jahre später erlitt auch Jehan Alain auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs einen tragisch frühen Tod. In seinen ersten Vokalkompositionen verzichtete Alain auf Worte, weil er der Sprache gegenüber ein tiefes Mißtrauen empfand. Seiner Überzeugung nach konnte nur die Musik das Geheimnisvollste in uns berühren. So wurde die vocalise dorienne erst postum vom Vater Albert Alain (1880-1971) mit dem Text des Ave Maria unterlegt.
Der bereits als dreijähriges Kind völlig erblindete Jean Langlais (1907-1991) schrieb zwischen 1932 und 1942 fünf Motetten für zwei gleiche Stimmen und Orgel, die er unter dem Titel ‘Cinq Motets’ zusammenfaßte. ‘O Salutaris Hostia’ und ‘Ave Mundi Gloria’ sind die ersten beiden, bereits 1932 entstandenen Stücke dieser Sammlung. Die Wahl der vertonten Texte – die Anbetung der Hostie in der Eucharistiefeier und die verehrende Anrufung der Jungfrau Maria – spiegeln Langlais’ tiefen katholischen Glauben wider. Beiden Motetten gemeinsam ist eine schillernde, fast entrückt wirkende Klanglichkeit, die in den hohen Gesangsstimmen, hellen Orgelregistern und der freien Harmonik zum Ausdruck kommt. Doch Langlais, der Kontraste liebte, gestaltete die Stücke in vieler Hinsicht auch sehr unterschiedlich. Während sich ‘O Salutaris Hostia’ fast schwerelos über einem kaum wahrnehmbaren Metrum bewegt und den piano-Bereich nicht verläßt, sind durchlaufender Puls und dynamische Steigerungen im ‘Ave Mundi Gloria’ deutlich zu spüren.
Hinter dem unmittelbar erfahrbaren Wohlklang der Motette ‘O Guds Lamm’ (1992) von Sven-David Sandström (*1942) steht – typisch für den Komponisten – eine ausgewogene Konstruktion aus symmetrischen und asymmetrischen Elementen. Sandström, der gerne Gegensätze miteinander konfrontierte, unterlegte hier der Sopranstimme den schwedischen Text ‘O Guds Lamm’ (O Lamm Gottes), während die anderen Stimmen die lateinische Anrufung ‘Agnus Dei’ singen. die zweimalige Verlangsamung des Tempos und die sukzessive Einführung von sieben b-Vorzeichen erzeugen ein Gefühl des Hinabsinkens, des Sich-Verneigens vor dem Lamm Gottes. Im zweiten Teil der Motette bei der Bitte um Frieden hellt sich der Klang merklich auf, – als ob der erflehte Frieden schon Wirklichkeit geworden wäre…
Der norwegische Komponist Trond Kverno (*1945) sagt über den Sinn seiner Arbeit: ‘Der wesentliche Punkt ist, daß die Musik uns vor Gottes Thron zu Gehör bringt, nicht daß wir die Musik hören. Das ist die grundlegende Voraussetzung, auf der ich meine Arbeit aufbaue. Ich würde sie mit der Arbeit eines Ikonenmalers vergleichen, dessen einzelne Ikonen ein Fenster zu einer anderen Realität sind, als der, welche uns umgibt.’
Vor diesem Hintergrund ist die symbolkräftige Tonsprache des 1976 komponierten ‘Ave Maris Stella’ zu verstehen. Der Motette liegt eine mittelalterliche, sieben Strophen umfassende Mariendichtung zugrunde. In der mittleren und letzten Strophe entfachen prägnante rhythmische Motive eine gewaltige Dynamik. Die zentrale Bitte des Gedichts ‘Monstra te esse matrem’ (Erweise dich als Mutter) wird – ähnlich wie in Nystedts Kyrie und Edlunds Gloria – in eine rhythmische Formel gefaßt, die die Männerstimmen ununterbrochen wiederholen. Gleichzeitig singen die Frauen: ‘Sumat per te preces, qui pro nobis natus’ (Möge der, der für uns geboren ist, durch dich unsere Gebete erhören).
Der Zusammenklang der Verse ist nicht zufällig. Hier wird ein Prinzip sehr früher Motetten wirksam, in denen oft durch Übereinanderschichtung verschiedener Texte eine zusätzliche Sinnebene entsteht: Wenn Maria als Mutter bei ihrem Sohn für die Menschen eintritt, wird er sie erhören. In der letzten Strophe des Mariengedichts wird das Lob Gottes von leicht entzifferbarer Tonsymbolik begleitet. Triolen stehen für die Dreifaltigkeit. Die langen Haltetöne des gleichzeitig gesungenen ‘unus’ und der Einklang am Phrasenende markieren dagegen die Einheit. Mit einer abermaligen Hinwendung an Maria endet das Stück in der klanglichen Intimität, in der es begonnen hat.
Das 7. Projekt des Kronenchors