Weep, o mine Eyes



Jana Christin Walter, die bis dahin den Chor geleitet hatte, verließ Berlin nach der Geburt ihres Sohnes Paul, um seitdem in Hamburg und Schleswig-Holstein zu leben. Eine kurze Probenphase unter Thomas Noll, dem jetzigen Dirigenten der Rosa Cavaliere, blieb ohne Konzertabschluß, aber mit Thorsten Gietz übernahm ein Chormitglied, selbst Leiter der Chorwerkstatt Schöneberg, die Probenarbeit des Kronenchors.
Diese Übergangsphase fand ihren Abschluß mit einem Gemeinschaftskonzert der beiden von Thorsten Gietz geleiteten Chöre im Juli 1994 in der Fabrik in der Osloer Straße in Berlin- Wedding.
Deutschland lag zu jener Zeit im Fußball-Fieber der Weltmeisterschaft in den USA. Aber der Kronenchor ließ sich nicht lumpen und bot dem Bundesberti Parole.


Hier der Text des Programmhefts von damals:

Herzlichen Glückwunsch!
Der Großteil der Nation sitzt jetzt vor den Bildschirmen in der ersten Reihe und fiebert um die Verhinderung eines neuerlichen Balkan-Desasters unserer Republik. Davon unbeeindruckt haben Sie den Weg in den Wedding gefunden, um den eigentlichen Verlierern dieser Weltmeisterschaft eine kulturelle Aufwartung zu machen.

Ja, es ist wieder einmal England, das bereits in der Qualifikationsrunde steckengeblieben ist, wir haben uns mittlerweile daran gewöhnt, aber verwinden werden wir es niemals können…

Und da läuft auch schon die Ehrenformation der altehrwürdigen Premier Division, Grün-Weiß Friedrichstadt, auf den Platz, um die ersten Steilpässe zu schlagen. Erinnert sei an ihre fünfmalige souveräne UEFA-Cup-Qualifikation (leider in den Jahren, als englische Teams gar nicht mitspielen durften). Aber was ist das? What is our life? schallt es aus den Kehlen. Gedanklich noch in den Umkleidekabinen, scheinen sie sich gerade jetzt die wichtigen Fragen des Lebens stellen zu wollen. Nun gut, alles ist nur ein Spiel (und das nächste Lied immer das schwerste), aber warum bloß diese Hoffnungslosigkeit?

Kein Wunder, daß der Technische Direktor, ‘Kaiser’ Thorsten Gietz jetzt erstmal die gesamte Mannschaft unter die Dusche schickt und sein Glück mit einer neuen Formation versucht.

Aber auch die berühmten Hattrick-Verlierer der Wembley-Finals von 71 bis 73, Blau-Weiß Schöneberg, geben sich erstmal der gedanklichen Insellage hin und, ‘Weep o mine Eyes!’, wollen sie so lange heulen, bis auch sie den Duscheffekt erreicht haben und ganz untergehen.

Diesmal allerdings steht der Kaiser zu seinen Leuten und läßt sie nochmals ran. Mit Come again, sweet love scheinen sie zunächst auch den guten alten Geist des FC Liverpool herbeirufen zu wollen. Man spürt geradezu den Willen, den Sieg zu erspähen, zu greifen, zu erlauschen, zu küssen… Aber bei den geschickt gesetzten Kontern des Schicksals bleibt ihnen auch in diesem Anlauf nur, sich hinzusetzen, zu schluchzen und sich klagend der englischen Krankheit, der Todessehnsucht, hinzugeben.

Wie ein Befreiungsschlag muß die neue Taktik wirken, die der Trainer, inzwischen wild gestikulierend, jetzt an der Außenlinie ausgibt. Die Götter werden beschworen: ‘Hark, all ye lovely saints’, wovon man sich zwar feurige Waffen für die Offensive verspricht, aber am nachhaltigsten sind sämtliche Gegner doch von der deutlich hörbaren Abseits-Falle verunsichert…

Die rettende Einsicht Too much I once lamented kommt zwar glaubwürdig, aber wie immer zu spät, mit Lamentieren ist diesem Publikum nämlich nicht beizukommen.

Die einzige Möglichkeit bleibt,die Mannschaft noch einmal komplett auszuwechseln und bei der Spielkultur erfolgreicherer Fußballverbände geistige Anleihen zu machen.

Also setzt Bundes-Thorsten auf kontrolliertes Angriffsspiel mit höchstem Beistand. Richte mich, Gott und führe meine Sache gegen das unheilige Volk… Na, wenn das nicht hilft. Warum die an sich frischen SpielerInnen bereits im 130. Psalm wieder mehr auf Eingebung harren, als das Heft in die Hand zu nehmen, ist trotz der entschiedenen Hoffnungsäußerungen weitgehend unklar. Zumal die gegen Ende überdeutlich werdende Sympathie mit den Soccer-Underdogs von Maccabi Tel Aviv scheinbar keinen Sinn macht…

Ein Gefühl von Betrogenheit macht sich spätestens mit dem Ausruf Ach arme Welt, Du trügest mich breit.

Der Entschluß, fortan zu schweigen, kommt mit Io tacero deshalb nicht überraschend, wenngleich der tränenselige Abschied vom satten Grün durch eine beherzt vorgetragene – kurze – Schlußphase nach dem Motto Puisque tout passe (Wenn auch alles vergeht) immerhin auf einen Abgangsapplaus bei der letzten Auswechslung hoffen läßt.

Denn inzwischen hat Blau-Weiß die einzig mögliche Konsequenz gezogen: Die kulturelle Annexion des Gastgeberlandes. In It was a lover and his lass wird auf unnachahmliche Weise die lautmalerische Geste des zwanglosen Zugangs zum Thema Breitensport in Amerika nachgeahmt. Der Titel The laziest girl in town läßt eine feingliedrige Sympathie für kurze Trainigseinheiten durchschimmern und versöhnt deshalb gewissermaßen vollkommen…

Der gemeinsame Auftritt der beiden Dream-Teams in Blau, Grün und Weiß rundet das Bild vom völkerverbindenden Element des Sports jetzt sicher auch in Ihren Augen und Ohren ab. Come with me, my love ist wie alles am heutigen Abend wörtlich zu verstehen. Bleiben Sie also da, es gibt was zu essen.

Sollten Sie den Abend nicht verstanden haben, beeilen Sie sich zum Spiel Schweden gegen Rumänien (21 Uhr 30 im ZDF). Die schönsten Fußballerbeine sollen allerdings bereits gestern gespielt haben… Viel Erfolg!

Die Aufstellung

Kaminski
Bennett Weelkes Mendelssohn Thomkins
Brahms Morley Gibbons
Gesualdo Hindemith Dowland

Der Kronenchor verabschiedet sich hiermit von seiner ehemaligen Cheftrainerin Jana Christin Walter, die ein lukratives Angebot von Dithmarsia Marne nicht ausschlagen konnte. Von der Ablösesumme kaufen wir uns ein Eis.

Übrigens: Im Gegensatz zur Niederlage, die Berti an jenem Abend gegen Bulgarien einstecken mußte, war das Konzert ein Erfolg…



Das 2. Projekt des Kronenchors