Visions- Voices



Vokalmusik des 20. Jahrhunderts aus England und Amerika


Die Konzerte dieses Projekts lagen zeitlich vergleichsweise weit auseinander. Zunächst traten wir mit den drei ursprünglich geplanten Konzerten im Oktober 1998 in der Hochschule der Künste und im Meistersaal (beide in Berlin) sowie im Schloß Schöningen bei Helmstedt auf.
Danach folgten wir einer Einladung des Berliner Sängerbunds, zum zweiten Mal an der Reihe der Sonntagskonzertreihe teilzunehmen. Deshalb unterbrachen wir die für das elfte Projekt “Linderung” bereits begonnenen Einstudierungen für zwei Monate und traten im Februar 1999 mit den Chorpartien aus diesem Projekt nochmals im Kammermusiksaal der Philharmonie auf.


Bei den Eigenveranstaltungen in Berlin sang der Bariton Stefan Grunwald aus Frankfurt am Main den Liederzyklus ‘Songs of Travel’ von Ralph Vaughan Williams, in Schöningen sang diesen Part Tobias Müller aus Berlin. Begleitet am Klavier wurden beide von Monika Gröbl.


Das Programm
Zoltán Kodály
An Ode for Music
für gemischten Chor a cappella
Text: William Collins

Edward Elgar
Death on the Hills, op. 72
Love’s Tempest, op. 73 Nr. 1
Serenade, op. 73, Nr. 2
für gemischten Chor a cappella
Text: Maikov/Minski-Newmarch

Ralph Vaughan Williams
Songs of Travel
für Bariton und Klavier
Text: Robert Louis Stevenson
No. 1 – The Vagabond
No. 2 – Let Beauty Awake
No. 3 – The Roadside Fire
No. 4 – Youth and Love

Samuel Barber
Reincarnations, op. 16
für gemischten Chor a cappella
Text: James Stephens
No. 1 – Mary Hynes
No. 2 – Anthony O’Daly
No. 3 – The Coolin

Ralph Vaughan Williams
Songs of Travel
No. 5 – In Dreams
No. 6 – The Infinite Shining Heavens
No. 7 – Wither must I wander?
No. 8 – Bright is the Ring of Words
No. 9 – I have Trod the Upward and the Downward Slope

Ralph Vaughan Williams
Silence and Music

Benjamin Britten
Hymn to St. Cecilia, op. 27
für gemischten Chor a cappella
Text: W. H. Auden


Hier ein Auszug aus dem damaligen Programmheft:
Mit Visions/Voices stellt der Kronenchor Friedrichstadt ein Programm englischsprachiger Chorliteratur des 20. Jahrhunderts vor. Im Mittelpunkt des Konzertes stehen a cappella-Chorwerke der englischen Komponisten Benjamin Britten und Edward Elgar sowie des Amerikaners Samuel Barber und des Ungarn Zoltán Kodály, die durch Lieder für Sologesang und Klavier des Briten Ralph Vaughan Williams ergänzt werden.

Der ungarische Komponist Zoltán Kodály (1882-1967) begründete zusammen mit Bela Bartók einen neuen ungarischen Musikstil. Die beiden eng befreundeten Komponisten sammelten ungarische Volkslieder, analysierten und arrangierten sie und verarbeiteten sie in ihren Kompositionen. Kodálys Musikstil zeichnet sich durch Melodienreichtum, Klangreinheit und formale Strenge aus. Ab 1925 widmete er sich besonders intensiv der Musikerziehung von Kindern und Jugendlichen. Die Vokal- und insbesondere die Chormusik bildete den Schwerpunkt seines kompositorischen Schaffens.
Der ‘Ode for music’, 1963 zum 10. Internationalen Chorfestival in Cork/Irland geschrieben, liegt die letzte Strophe der Allegorie ‘The Passions’ des englischen Dichters William Collins (1721-1759) zugrunde. Collins wandte sich vehement gegen den zu seiner Zeit vorherrschenden Stil der vornehmlich von Händel geprägten englischen Musik. Er verlangte nach einer ‘simple music’, nach rhythmischen Melodien, denen ein leidenschaftlicher Text unterlegt ist. Der ästhetischen Forderung des Dichters kommt Kodály nach. Zu Beginn der Ode beschwören archaisch wirkende Klänge aus Naturtönen den ‘Idealzustand’ der Musik, des Lebens, der Menschheit. Der Beginn der Melodie in den Frauenstimmen wird zart von diesen Akkorden unterstützt. Einstimmigkeit fächert sich in Klang auf. Einen polyphonen Kontrast setzt Kodály mit einem markanten Fugenthema, das die Shakespeare-Zeilen ‘Orpheus with his lute…’ einführt. Der griechische Sänger Orpheus vermochte der Sage nach durch die Zauberkraft seines Gesangs und seines Saitenspiels wilde Tiere zu zähmen und selbst unbelebte Natur zu bewegen.

Edward Elgar (1857-1934) gilt als der letzte Repräsentant der Romantik in England. Stärker als die angelsächsische Tradition beeinflußten ihn die katholische Orgelmusik und die spätromantische Musik Mitteleuropas. So bezog der Autodidakt Elgar wesentliche Grundlagen von den neudeutschen Stilmodellen eines Liszt, Wagner oder Strauss. Elgars Kompositionen spiegeln eine starke Individualität wieder und sind auch Ausdruck seiner emotionalen und intuitiven Befindlichkeit. Zum Durchbruch gelangte Elgar mit seinen um die Jahrhundertwende entstandenen Meisterwerken, den ‘Enigma-Variationen’ (1900) und dem Oratorium ‘Dream of Gerontius’ (1901). Durch die zunehmende Beliebtheit von Musikfestivals und Chorwettbewerben im England des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde Elgar – selbst in der Chortradition der Arbeiterklasse der Industriebezirke Großbritanniens aufgewachsen – jedoch auch immer wieder zur Komposition von kleineren Chorsätzen angeregt.
Mit ‘Death on the Hills, op. 72’ vertonte Elgar 1914 ein russisches Gedicht von Maikov in der Übersetzung von Rosa Newmarch. Es beschreibt den Tod und sein Gefolge aus den Seelen Verstorbener in Zwiesprache miteinander.
Auch die beiden ‘partsongs op. 73’ sind im Jahre 1914 entstanden und bedienen sich weiterer Newmarch-Übersetzungen von Gedichten von Maikov und Minski.
In ‘Love’s Tempest’ findet das plötzliche Erwachen einer leidenschaftlichen Liebe musikalisch Ausdruck in einer dramatischen Steigerung, ausgehend von ruhigen Klangfarben des ‘sapphire ocean’ hin zum rhythmischen Allegro con fuoco eines entfachten Liebessturms, ‘wilder than the storm at sea’.
Das zweite Chorstück ‘Serenade’, läßt erahnen, welche Bedeutung der Komponist Elgar den Träumen als Quelle intuitiver und schöpferischer Kräfte beigemessen haben mag.

Ralph Vaughan Williams (1872-1958) studierte in London, Cambridge und in Berlin bei Max Bruch. Eine wichtige Inspirationsquelle wurden ihm die englische Volksmusik und die altenglische Tudor-Musik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Von 1903 bis 1913 sammelte er, ähnlich wie Kodály und Bartók in Ungarn, Volkslieder und gab altenglische Musik, insbesondere von Henry Purcell, heraus. Maßgebliche Impulse erhielt Vaughan Williams vor allem durch einen Besuch bei Maurice Ravel 1908 in Paris, der zu einer differenzierten klanglichen Gestaltung seiner Werke führte. Ab 1920 fanden seine Werke, insbesondere die Symphonien, immer mehr Anerkennung, und nach dem Tod von Edward Elgar und Gustav Holst im Jahr 1934 galt er unbestritten als der führende Komponist in England.

Die neun ‘Songs of Travel’ wurden 1905 veröffentlicht. Sie stammen aus der frühen Schaffensperiode des Komponisten. Ihnen liegen Gedichte von Robert Louis Stevenson (1850-1894) zugrunde, der als Autor der ‘Schatzinsel’ bekannt ist. In den Liedern werden verschiedene Aspekte des Reisens behandelt. In gleichmäßigen, marschähnlichen Schritten läßt Vaughan Williams in ‘The Vagabond’ seinen Protagonisten umherziehen. ‘The Roadside Fire’ ist ein humoristisch gefärbtes, zunehmend gefühlvolleres Liebeslied des auf der Straße Lebenden. Einem tiefernsten Gesang gleicht ‘In Dreams’, in dessen schwermütigem Epilog sich eine sanft gleitende Chromatik mit impressionistischen Quintparallelen mischt. Feierlich wird dagegen in ‘Bright is the Ring of Words’ dem Dichterwort Ehre erwiesen.

Die musikgeschichtliche Stellung des ‘Neoromantikers’ Samuel Barber (1910-1981) wurde oft mit der von Johannes Brahms verglichen: Beide gehörten nicht eben zu den musikalischen Avantgardisten ihrer Zeit, beiden ist aber auch ein hohes Maß an stilistischer Reife und starker individueller Ausdruckskraft zuerkannt worden. Dank dieser traditionsgebundenen und doch sehr persönlichen Tonsprache gehört der Amerikaner Samuel Barber zu den meistgespielten Komponisten seines Landes. Immer wieder hervorgehoben werden Barbers melodische Begabung, sein hochentwickelter lyrischer Stil und sein poetisches Empfinden – Qualitäten, die besonders vom umfangreichen Vokalwerk des Komponisten widergespiegelt werden. Das Interesse an dieser Gattung, insbesondere der des Klavierliedes, liegt in Barbers eigener Biographie begründet, hatte er doch nach seinem Studium zunächst eine Sängerlaufbahn einschlagen wollen.
Die ‘Reincarnations’, op. 16 (1940) für gemischten Chor sind eine Vertonung dreier Gedichte von James Stephens, die auf irische Texte von Antoine O’Raftery zurückgehen. ‘Mary Hynes’, das erste der drei Stücke, wird durch ein homophones Anfangsthema eröffnet, das die Lobpreisungen auf die geliebte Frau mit strahlenden Klängen verkündet. Im zweiten Stück wird der Tod des ‘Anthony O’Daly’ beklagt. Durch die beharrliche Wiederholung des Namens Anthony auf einem Orgelpunkt-Ton erfährt der klagende Ausdruck des Stückes eine eindringliche Steigerung. (In der Tat wurde dieses Stück allerdings nie von uns aufgeführt…) Die düstere Stimmung dieser Komposition hebt das letzte Stück, ‘The Coolin’, wieder auf: Arabeskenhafte Gesangslinien und ein sich wiegender sicilianoartiger Rhythmus bestimmen den Charakter dieses zärtlichen Liebesliedes.

Benjamin Brittens (1913-1976) Werk umfaßt neben traditionellen Gattungen auch Musik für Rundfunk, Film und Sprechtheater. Bekannt wurde Britten vor allem durch seine zahlreichen Opern und vielfältigen Liedvertonungen. Zu seinen besten Werken zählen Vokalstücke und Opernpartien, welche er für seinen Lebenspartner, den Tenor Peter Pears, komponierte. Britten war ein Komponist, der die Musik nicht streng dem logischen Sprachrhythmus unterordnete, sondern eine eigenständige Wortbehandlung vorzog: ‘Was ich brauche, sind bemerkenswerte und packende Wendungen.’
Diese fand er in den Texten von W. H. Auden, dessen ‘Hymn to St. Cecilia’ Britten 1942 vertonte. Die Komposition entstand während einer Atlantiküberfahrt, als Britten nach dreijährigem Aufenthalt von Amerika nach England zurückkehrte. Von dieser Komposition heißt es, daß kein weiteres Werk Brittens mit ebenso leichter Grazie beginne und so viel Schönheit aus einfachen Dreiklängen ziehe wie die ‘Hymn to St. Cecilia’… Der Reichtum der drei verschiedenartigen Teile steht im Gegensatz zum sehr weichen unisono im Refrain, welcher eine musikalische Verbindung zwischen den Strophen herstellt. Die Hymne ist eine Bitte der sterblichen Musiker an die Schutzheilige der Musik, ihnen in Visionen zu erscheinen und göttliche Inspiration zu geben.

Im Konzert des Sängerbundes im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie sang der Chor zusätzlich das Stück ‘Silence and Music’ von Ralph Vaughan Williams. Das Stück ist Teil des Liederzyklus ‘A Garland for the Queen’ von zehn britischen Komponisten, geschrieben anläßlich der Krönung von Elisabeth II. Es basiert auf einem Gedicht von Ursula Wood und spannt einen Bogen von der nahezu absoluten Stille eines sanft im Mondlicht treibenden Schwans über die durch den Gesang des Menschen erwachende Natur mit Wind, Meer und fast grellem Vogelgeschrei zurück zur Stille, aus der alles entstand.



Das 10. Projekt des Kronenchors